Austauschbar?

*vorgestellt von Michaela Pettermann-Kisling*

Deckel auf – Buch raus – Deckel zu

Noch einmal möchte ich in die Comic-Kiste greifen. Und das wie ich finde, aus gutem Grund.

In den letzten Jahren hat sich auf dem Kindercomic-Markt viel getan und bewegt, und einige Serien sind mir sehr ans Herz gewachsen.

ARIOL habe ich bereits in meinem Blog vom 22. November 2022 vorgestellt, aber ebenso haben      
KISTE von Patrick Wirbeleit & Uwe Heidschötter, 
QRT von Ferdinand Lutz, 
HILDA von Luke Pearson, 
AKISSI von Marguerite Abouet & Mathieu Sapin und
BÖSE JUNGS von Aaron Blabey
einen fixen Platz auf meiner persönlichen Leseliste eingenommen.

Es muss aber nicht immer eine ganze Serie sein: 

„Supercool“, 

„Ulf“ oder

„Boris, Babette und lauter Skelette“ von Tanja Esch, 

„Lehmriese lebt“ oder „Manno“ von Anke Kuhl, 

„Paula – Liebesbrief des Schreckens“ von Sandra Brandstätter oder 

„Trip mit Tropf“ von Josephine Mark 

haben bei mir ebenso einen bleibenden Eindruck hinterlassen und sind meiner Ansicht nach wahre Comic-Schätze, die darauf warten gehoben zu werden.

Mein Herz im Sturm erobert hat unter anderem auch Selma, ein aufgewecktes, neugieriges, empathisches kleines Mädchen, und zwar schon im ersten Band „Hundeleben“, in welchem sie in den Körper eines Hundes schlüpft und vice versa.
Der Folgeband „Opaleben“ verrät bereits im Vorsatzpapier, welches Thema uns nun begegnen wird: Zahnprothesen, Gehstöcke, warme Pantoffeln, Pillendosen und Gleitsichtbrillen.
Doch auch eine Schwarzwälder Kirschtorte – „Schwaki“ genannt –, eine Rose, ein Mascherl für einen Anzug und ein Ehering machen neugierig auf die Geschichte, die uns hier erzählt werden will.

K  L  I  N  G  E  L  I  N  G  !  !  ! ! ! ! ! 

…und schon geht es los…

Mit flottem Tempo starten wir gemeinsam mit Selma in der Transportbox eines Lastenfahrrads, getreten und gelenkt von ihrem Vater, der figürlich der Sparte „knuddeliger Teddybär“ und „Möchtegern-Sportler“ angehört.

Auffällig ist, dass Selma ordnungsgemäß einen roten Helm mit gelbem Blitz trägt, welcher der Anfangsszene gleich noch mehr Rasanz verleiht. Dass Papa keinen Helm trägt, wollen wir an dieser Stelle fürs erste großzügig übersehen.
Recht zügig gerät das Vater-Tochter-Gespann in einen Konflikt mit einem alten Mann, der sich lautstark über den am Gehweg Rad fahrenden Vater beschwert. Ob es sich tatsächlich um einen Gehweg, einen Radweg oder eine Begegnungszone handelt, ist hier noch nicht festzustellen. Tatsache ist, dass sich beide Parteien im Recht fühlen.
Kurz darauf entspinnt sich bei einer neuerlichen Begegnung ein emotionaler Dialog zwischen Selma und dem alten Mann, der übrigens Werner heißt, wobei wir dies von seinem Freund Paule erfahren. Die beiden alten Herren sitzen auf der Parkbank und beklagen sich über den maroden Zustand der Welt und deren negative Entwicklung und verwandeln sich bei dem „Gekeife“ in alte, kläffende Hunde.

Selma beobachtet diese Transformation neugierig-verblüfft aus ihrer Lastenrad-Transportsänfte und gerät unvermittelt ins Visier der beiden „Bellos“. Da reicht es ihr plötzlich und sie tritt den beiden alten Herren entschlossen entgegen und fordert in einer, an einen Western erinnernden, herangezoomten High-Noon-Showdown-Szenerie Werner zu einem Tausch heraus.

Das plötzliche Sich-Wiederfinden in den Schuhen des anderen eröffnet mit einem Schlag die Sicht auf eine vollkommen andere Lebensrealität.



Ziemlich perplex nehmen Selma und Werner den Platz des anderen ein, und in nun abwechselnden Szenerien begleiten wir beide ProtagonistInnen durch ihren „neuen“ Alltag.

Selma erfährt zum Beispiel, was es heißt, einsam zu sein, erhöhten Blutdruck, Probleme beim Klogang und dritte Zähne zu haben.

Selma gelingt es aber auch mit ihrem kindlich-unverstellten Blick auf Werners vergangenes Leben, welches sich ihr langsam durch diverse Hinweise erschließt, mitsamt den HOCH-Zeiten, aber den ebenso vorhandenen Verfehlungen und Verlusten, einen neuen, mutigen Zugang zu schaffen und Türen zu öffnen, die bereits verschlossen erschienen. So wird zum Beispiel wieder ein Kontakt mit der lange Zeit entfremdeten Tochter möglich.
Werner hingegen erlebt, in Kinderschuhen steckend, die sehr fürsorgliche, offene Familienatmosphäre mit Selmas Eltern, in der viel Raum für Dialog, Fantasie und gemeinsames Tun gegeben wird. Dabei erkennt er so manchen prägnanten Unterschied zu seinem Leben und in einer berührenden Szene spricht er Ali und Yasmin ein großes Lob für ihre gelungene Elternschaft aus.

Aber auch Werners lebenserfahrener Blickwinkel bringt neue Einsichten und Erkenntnisse für Selmas Umfeld und lässt das Blickfeld aller Beteiligten weiter werden.
Ebenso fließt die Frage, ob Eltern wohl immer alles richtig machen, ein und findet hier gleichberechtigt neben vielen anderen Fragestellungen Platz.
Gut gelungen finde ich persönlich den Plot, dass Selmas Eltern bis zum Schluss glauben, dass Selma eine Rolle spielt. Sie meinen, dass sie den „Alten“ nur nachahmt, und tragen das Rollenspiel auf höchst empathisch-unterhaltsame Art und Weise mit.

Die sich daraus ergebenden, oft witzigen Dialoge und beiläufig wirkenden Situationen in Bezug auf Generationenkonflikte, soziales Gefälle, Umweltschutz, Einsamkeit und Ausgegrenztheit, lassen die ernsten Themen leichtfüßig erscheinen, prägen sich aber mit einem liebevollen Augenzwinkern ein und machen den Lesegenuss umso lohnender.

Dass ich an einigen Stellen laut auflachen musste, war für mich ein absoluter Bonus.

Unbedingt müssen die gelungenen Illustrationen von Anne Becker erwähnt werden. Sie kommen ebenso leichtfüßig wie bestimmt daher und der detailverliebte, aber flotte Strich zaubert mit großer Genauigkeit Leben in die Mimik der Figuren.
Abschließend möchte ich festhalten, dass schon Friedrich Schiller zur Thematik des Tauschens Interessantes kundtat: 

Hast du etwas, so teile mir’s mit, und ich zahle, was recht ist! / bist du etwas, o dann tauschen die Seelen wir aus.“

„Der ernsteste Stoff muss so behandelt werden, dass wir die Fähigkeit behalten, ihn unmittelbar mit dem leichtesten Spiel zu vertauschen.“

Beides haben Martin Baltscheit und Anne Becker meinem Empfinden nach bravourös gemeistert.

Und jetzt aber die wirklich alles entscheidende Frage: 

„Wer will mit mir tauschen?“

Opaleben Book Cover Opaleben
Selma tauscht Sachen
Martin Baltscheit
Kindercomic
Kibitz
Mai 2022
17 x 23 cm
88 Seiten, farbig
https://www.kibitz-verlag.de
Anne Becker