Verzauberte Stunden
*vorgestellt von Michaela Pettermann-Kisling*
Ein Geständnis gleich zu Beginn:
Ich war schon immer und bin noch immer eine etwas widerwillige Sachbuchleserin. Warum das so ist? Eine sehr gute Frage, auf welche ich keine schnelle Antwort habe.
Aber darum geht es hier eigentlich nicht.
Vorstellen möchte ich eines der wenigen Sachbücher, welches mich tatsächlich gefangen genommen hat, mir aus der Seele gesprochen hat, mich in vielen meiner Ansichten und Vermutungen bestätigt und diese wissenschaftlich belegt hat. Außerdem, und das ist das eigentlich Sensationelle, habe ich es fertiggelesen und exzerpiert. Das allein mag noch kein Qualitätsmerkmal darstellen, erwähnenswert finde ich es aber allemal.
Meghan Cox Gurdon, eine amerikanische Autorin und Kritikerin, die seit 2005 Kinderbücher im Wall Street Journal rezensiert, gelingt in ihrem Buch eine profunde Liebeserklärung an das Vorlesen, die jedes bibliophile Wesen im Innersten berührt und heilenden Balsam der Erkenntnis und Bestätigung in unseren Lese-Kosmos einfließen lässt.
Was aber genau macht dieses Buch für mich zu einem fast biblischen Offenbarungserlebnis?
Bereits in der Einleitung habe ich mir unzählige Sätze und Gedanken unterstrichen, unter anderem dieses Zitat der Autorin:
„Die Zeit, die wir mit Vorlesen verbringen, ist eine ganz besondere Zeit. Es geht eine wundersame Alchemie vor sich, wenn ein Mensch einem anderen Menschen vorliest, sie verwandelt gewöhnliche Alltagsdinge – ein Buch, eine Stimme, ein Sofa, ein bisschen Zeit – in einen berückenden Treibstoff für Herz, Geist und Fantasie.“
Oder berührende Sätze wie diese:
„Wenn uns jemand, den wir lieben, etwas vorliest, dann legen wir unseren Schutzpanzer ab. Wir schließen ein Bündnis in einer Höhle aus Wärme und Licht“, sagt die Autorin Kate DiCamillo.
Der Dichter Roger McGough erzählt aus dem 2. Weltkrieg folgendes:
„Obwohl es kaum Bücher gab, sorgte meine Mutter dafür, dass ich jeden Abend meine Gutenachtgeschichte zu hören bekam. Im Licht einer brennenden Fabrik las sie mir alles vor, was sie in die Finger bekam: Etiketten auf Flaschen, Cornflakes-Verpackungen. Warm und behaglich eingemummelt, war meine Lieblingsgeschichte die Beschreibung auf der Ovomaltine-Dose. Ich höre noch heute ihre Stimme: „Streuen Sie zwei oder drei gehäufte Teelöffel mit…“
In neun umfangreichen Kapiteln werden die verschiedenen Blickwinkel des Themas „Warum Vorlesen glücklich macht“ auf erfrischend-lebendige Art und Weise beleuchtet und vertieft. Mit vielen Beispielen, Querverweisen und aktuellen Studienergebnissen versucht die Autorin einen Bogen von Altbewährtem bis zu neuem Unerforschten zu spannen.
Gleichzeitig drückt die Autorin beharrlich und präzise ihr Unbehagen und ihre Besorgnis, den steigenden Technologie-Konsum betreffend, mehrfach aus und warnt vor einer sorglosen Nutzung derselbigen durch die Kleinsten.
Die Auswirkungen auf uns Menschen und unsere Gemeinschaften sind ebenso Thema wie die vielfältigen Ergebnisse der Gehirnforschung.
Betroffen zurückgelassen hat mich folgende Aussage eines 7jährigen Jungen:
„Ganz oft, wenn meine Eltern zu Hause sind und am Computer sitzen, habe ich das Gefühl, ich bin gar nicht da, weil sie so tun, als wäre ich nicht da… Sie versuchen nicht mal mit mir zu reden, sie ignorieren mich einfach. Das macht mich traurig.“
In einer Studie wurde die Kommunikation in Familien anhand der Wortanzahl, welche pro Tag an die Kinder gerichtet wurden, gemessen. Hier ergab sich eine Schwankungsbreite von 670 bis 12 000 Wörtern.
Auch die Aussage einer Wissenschaftlerin im Kontext mit Hirnaktiviätsmessungen, wenn Kinder Filme anschauen, hat sich bei mir nachhaltig eingeprägt:
„Das Licht ist an, aber es ist keiner zu Hause.“
Dies beschreibt, dass die Kinder die Geschichte zwar sehen, aber in den höherstufigen, für das Lernen zuständigen Hirnnetzwerken nichts mehr los ist.
An der Eingangstür zu einem Kindergarten in Texas findet sich folgende Aufforderung:
„SIE HOLEN GERADE IHR KIND AB. STECKEN SIE IHR TELEFON EIN. IHR KIND FREUT SICH, SIE ZU SEHEN. FREUEN SIE SICH NICHT? WIR HABEN GESEHEN, WIE KINDER IHREN ELTERN ZEIGEN WOLLTEN, WAS SIE GEBASTELT HABEN, WÄHREND DIE ELTERN DIE GANZE ZEIT AM TELEFON HINGEN. EIN KIND SAGTE IMMER WIEDER „MAMI, MAMI, MAMI…“, ABER SEINE MUTTER SCHENKTE IHREM TELEFON MEHR AUFMERKSAMKEIT ALS IHREM EIGENEN KIND. DAS FINDEN WIR SCHOCKIEREND. STECKEN SIE ALSO BITTE ENDLICH IHR TELEFON EIN!!!!“
Viele interessante Daten, Einsichten und Ausführungen liefert dieses Buch und nicht nur einmal bekam ich bezüglich der Eindringlichkeit des Textes eine seelische wie physische Gänsehaut.
Das Buch ist aber keineswegs eine pessimistische Anklageschrift, sondern soll, meinem Empfinden nach, ein Weckruf und eine Inspiration sein!
Ein Aufruf Verantwortung zu übernehmen, eine Aufforderung zur Veränderung an alle und eine Bestätigung für jeden, der bereits in dieser Gesinnung sein Bestes gibt.
Abschließend ist mir wichtig zu erwähnen, dass ich Barbara Schwarz sehr dankbar für diese Buchempfehlung bin. Ohne sie hätte ich vielleicht diese Perle nie entdeckt… Ich bin glücklich darüber, dass ich dieses Buch meiner persönlichen Schatzkammer hinzufügen konnte, und ich finde es höchst an der Zeit, dieses enthaltene Wissen mit so vielen Menschen wie nur möglich zu teilen. In welcher Form und Funktion auch immer.
Den Beginn mache ich mit diesem Blog…
Sachbuch
Suhrkamp Insel
30.09.2019
14,6 x 22,2 x 3,2 cm
334
https://www.suhrkamp.de/buch/meghan-cox-gurdon-die-verzauberte-stunde-t-9783458178156