Kann ein Krokodil rot sein?
*vorgestellt von Stefanie Sandhäugl*
Eric Carles berühmtester Charakter in Tiergestalt ist wohl die Raupe Nimmersatt. Eine Raupe treffen wir in diesem Buch nicht. Wohl aber ein Pferd, einen Hasen, einen Fuchs und viele weitere Tiere. Das Besondere an ihnen ist: sie erscheinen in ganz ungewöhnlichen Farben. Das Pferd ist blau, die Kuh ist gelb, das Krokodil ist rot und der Esel gar bunt getupft. Das Pferd scheint eine besondere Rolle zu spielen, denn es begegnet uns schon im Titel „Der Künstler und das blaue Pferd“ und bezieht sich auf das berühmte expressionistische Bild „Blaues Pferd“ von Franz Marc, der als einer der ersten Maler nicht davor zurück schreckte, die Dinge so abzubilden wie er sie empfand, und nicht, wie sie tatsächlich in der Natur erscheinen.
Schon das Vorsatzpapier lässt erahnen, dass es hier um Kunst geht. Wilde, kräftige Pinselstriche stimmen auf eine Geschichte ein, die mit Malerei zu tun hat. Der Text ist sehr reduziert. In wenigen Worten wird schlicht der Bildinhalt beschrieben. Der erste Satz „Ich bin ein Künstler und male…“ ist sehr klar. Nicht ganz so klar ist, ob es sich beim Künstler mit Palette und Pinsel um ein Kind handelt oder um einen Erwachsenen. Man weiß es nicht so genau. Vielleicht ist es der Künstler Franz Marc? Auf jeden Fall ist es der Schöpfer der farbigen Tiere, die auf den nächsten Seiten in Erscheinung treten. Am Ende der Geschichte tritt der Maler nocheinmal auf und erklärt im letzten Satz zufrieden und selbstbewusst: „Ich bin ein großer Künstler.“
Der Collage-Stil, bei dem Eric Carle grob bemaltes Papier, auf dem die Pinselstriche deutlich zu sehen sind, zerschneidet und neu zusammenfügt, ist sein gestalterisches Markenzeichen. Er erzeugt starke Farbkontraste durch den Einsatz von Komplementärfarben. Das leuchtend blaue Pferd setzt sich vdeutlich on einem orangen Hintergrund ab und der grüne Löwe thront vor einem roten Himmel.
Bemerkenswert ist das Nachwort des Autors. Man sieht das Originalbild „Blaues Pferd“ von 1911 und liest dazu eine sehr persönliche und berührende Notiz des Autors über seinen Bezug zu Franz Marc. Er war einer der Künstler, dessen avantgardistisches Werk in Carls Jugendzeit von den Nationalsozialisten als „entartet“ deklassiert wurde. Eric Carle wurde 1929 in den USA geboren. Seine Schulzeit verbrachte er aber in Deutschland, wo es verboten war, SchülerInnen die Bilder der Expressionisten zu zeigen. Sein Kunstlehrer tat es allerdings heimlich doch. Eric Carl würdigt diesen Mut, in dem er diese Anekdote in ein paar kurzen Sätzen am Schluss des Buches erzählt und er schließt sie mit dem beeindruckenden Satz ab: „Mein grüner Löwe, der bunt getupfte Esel und die anderen Tiere, die ich in den ‚verkehrten‘ Farben gemalt habe, sind eigentlich an jenem Tag vor 70 Jahren geboren.“
Dieses Buch wird vom Verlag für Kinder ab vier Jahren empfohlen. Meiner Meinung nach kann man es schon mit viel jüngeren Kindern lesen und betrachten. Es es ist so wunderbar vielschichtig, dass es auch mich als Erwachsene so berührt, dass ich eine Gänsehaut bekomme, wenn ich die letzte Seite lese. Ich habe es mit Volksschulkindern gelesen, die vor Vergnügen gejauchzt und geqietscht haben, weil sie so begeistert von den ungewöhnlichen Farben der Tiere waren. Und ich habe es mit jugendlichen angehenden PädagogInnen gelesen, und mit ihnen über die Freiheit der Kunst und das Recht auf individuellen, künstlerischen Ausdruck gesprochen. Die Botschaft ist so klar und doch so unaufdringlich subtil. Einfach ein großartiges Buch!
Gerstenberg
28.1.2019
32
Eric Carle