Der nackte Bär
*Vorgestellt von Michaela Pettermann-Kisling*
Dieses 1998 in niederländischer Originalausgabe erschienene Bilderbuch – „Blote beer“ –, welches auf jeglichen Text verzichtet, somit zur Kategorie silent book zählt, wurde vor 24 Jahren Teil meines Fundus und begleitet mich seither.
Expressive, collageartig gestaltete Elemente treten in Verbindung mit den pastellfarbenen Hintergründen, und die Linienführung und Farbgebung der gezeichneten Figuren weben einen zarten Aspekt in die Bilder.
Worum geht es in der Geschichte:
ein großer Braunbär und sein kleiner Freund – möglicherweise eine Kombination von Menschenkind, Ferkelchen bzw. Erdferkel, nennen wir es der Einfachheit halber Mefelki – unternehmen einen Ausflug.
Sie kommen an einen See, es scheint ein warmer Tag zu sein, und Mefelki beschließt schwimmen zu gehen und zieht sein Kleidchen aus.
Bär ist überrascht und verwirrt zugleich, ein großes Fragezeichen prangt über seinem Kopf.
Da zippt Mefelki kurzerhand seinem Freund das Fell am Rücken auf und die nächste Doppelseite zeigt uns die beiden nackig und vergnügt im Wasser. Der aufmerksame Betrachter kann jetzt bereits etwas Ungewöhnliches bemerken, wenn er das Bärenfell, das am Uferrand abgelegt wurde, betrachtet.
Von nun an verdichtet sich die Geschichte und nimmt Fahrt auf:
Bär und Mefelki begeben sich zum Ufer, Mefelki zieht sein Kleid an, doch Bär bleibt verdutzt stehen.
Sein Bärenfell ist nicht zu finden. Er beginnt zu suchen, läuft splitternackt über die Wiese und begegnet einem Raben und einem Hasen, die die Situation des Bären höchst amüsant finden.
Ab sofort wird die ärgerliche Angelegenheit zu einem peinlichen Spießrutenlauf, denn auch der Fuchs, die Ente und die Amsel haben noch nie einen nackten Bären gesehen und alle Tiere zerkugeln sich vor Lachen.
Selbst sein kleiner Freund kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, hilft ihm jedoch mit einem Zweig voller Blätter seine Nacktheit zu verdecken.
Mit einem Blätterröckchen ausgestattet nimmt Mefelki nicht nur seinen Freund an der Hand, sondern auch die ungeklärte Sache mit dem verschwundenen Bärenfell.
Die Spurensuche beginnt und bereits auf der nächsten Doppelseite eröffnet sich unserem Duo ein neuer Tatbestand.
Die Erkenntnis über den Diebstahl seines Felles lässt den Bären aus seiner passiv-ratlosen Beklemmung erwachen, und er nimmt die Angelegenheit selbst in die Hand.
Verärgert zieht er sein Fell wieder an und liest den Ameisen die Leviten.
Gestärkt, selbstzufrieden und mit der Welt versöhnt stapft Bär voran, Mefelki folgt ihm und gemeinsam ziehen sie weiter.
Dieses Buch ermöglicht verschiedene „Lesarten“, da die Bilder auf jeden von uns unterschiedlich wirken und somit eine breite Diskussion in Gang bringen können. Jeder Mensch hat einen individuellen Zugang und eigene Empfindungen zu Nacktheit, Schadenfreude und Ungewöhnlichem.
Für mich persönlich stellt der Verlust seines Felles für den Bären einen essentiellen Verlust seiner Schutzhülle dar, welchen er jedoch in einem äußeren wie auch inneren Konflikt überwindet und gestärkt aus dieser Geschichte herausgeht.
Ob es sich in dieser Geschichte um Bloßstellung handelt, möge jeder Leser und jede Leserin für sich selbst entscheiden. In Zeiten, wo Public Shaming, mit all seinen skurrilen und beängstigenden Auswüchsen, verstärkt Thema ist, erscheint mir das Buch als guter Impulsgeber, um mit Kindern in Diskussion und Austausch zu kommen.
Der Autor Daan Remmerts de Vries, geboren 1962, lebt in Amsterdam und ist sehr vielseitig. Er macht Musik, schreibt, malt, zeichnet und fotografiert. Er schreibt für Kinder und Erwachsene.
Silent book
Oetinger
2000
Hardcover