Morkels Alphabet

*vorgestellt von Lisa Wagner*

„Jemand legt auf dem Acker Botschaften aus. Anna findet den ersten Zettel. Er steckt auf einem gefrorenen Getreidehalm und enthält fünf Buchstaben: Hallo.“
Es ist Winter, irgendwo im hohen Norden. Der Bagger steht still, der Wald hinter dem kleinen Bauernhäuschen liegt reglos im stumpfen Dunkel. Auf dem verschneiten Feld nur die Krähen und ein Zettel. Und Anna. Anna, die zu antworten beginnt. Anna die Antworten bekommt. Anna, die Morkel findet; zuerst in ihren Träumen, dann in einem versteckten Baumhaus.

 

Morkel ritzt gerne Wörter, Buchstaben und kleine Zeichnungen in die Rinde. Anna gefällt das, denn „ihr gefällt alles, was lange braucht.“ Morkel geht nicht oft zur Schule. Was kannst du gut? – fragt Anna am nächsten Tag. Nichts – antwortet Morkel. Was noch? – fragt Anna. Morkel denkt lange nach. Ich weiß, wo der Fischadler sein Nest hat und wo die Bachstelzen im Frühjahr landen.“ Wenn Anna und Morkel ihre herrlichen Nachmittage im Baumhaus verbringen, wenn der Wald vor Eiskristallen glüht und die Vögel im Winkelflug gen Süden ziehen, dann wirkt alles größer. Morkel und Anna sammeln Wörter, abwechselnd. Denn „alle haben ihr eigenes Alphabet.“ Und „es kann lange dauern, bis man die Buchstaben versteht.“

Eines Tages ist Morkel verschwunden. Anna sucht ihn, versucht ihn zu vergessen. Doch in ihren Träumen kehrt er immer wieder zurück. Mit dem Frühling zieht auch das Gezwitscher der Vögel wieder ein und bringt ihr die rettende Idee. Sie legt Botschaften unter die Steine am Acker und wartet auf Morkels Antwort. Und tatsächlich: Nach drei Tagen findet sie eine Karte mit Morkels Buchstaben auf der Rückseite und beginnt zu laufen …

Stian Hole erzählt eine Geschichte von Freundschaft und Einsamkeit, dem harten Unterschied von Traum und Realität und dem Zauber des Augenblicks, in dem die Welt am äußeren Rand der eigenen Wahrnehmung für den Moment eines Atemzugs keine Rolle spielt. Die ernüchternden Fakten eines alltäglichen Lebens werden in den Bildern und im Alphabet des Jungen nur angedeutet und bleiben wie dunkle Gewitterwolken dräuend am fernen Horizont hängen.

Auch Stian Holes Illustrationen passen in diesen Gegensatz. Die Bilder und ihre Farben wirken wie fotographiert, aber doch verfremdet und gemalt. Aus den schemenhaften Hintergründen stechen die Details wie die Gesichter oder die feine Struktur der Wollmützen und kleinen Äste des großen Baumes markant und ausdrucksstark hervor. Die Perspektive, aus der die LeserInnen ins Geschehen eintauchen dürfen, ist häufig die jener Person, die gerade im Mittelpunkt der Erzählung steht, oder diejenige eines Vogels.

Ein Buch, das sich durch großartige Langsamkeit auszeichnet und das man mindestens zweimal in Ruhe lesen und bestaunen muss, um dem vollen Ausmaß seiner bild- und wortgewaltigen Botschaften gerecht zu werden.

 

Morkels Alphabet
Stian Hole
Hanser
2016
Stian Hole

Eine Geschichte über eine besondere, einfühlsame Freundschaft und die kindliche Wahrnehmung, die die Zeit stillstehen lässt.