Der Überzählige
*vorgestellt von Veronika Albrecht*
Mit einem ihrer letzten Texte lässt uns Christine Nöstlinger an der Erinnerung an ihre wohl einsamste und schwierigste Reise teilhaben. Im Sommer 1945, kurz nach Kriegsende, musste sie Wien als Achtjährige im Zuge einer „Kinderlandverschickung“ für ein paar Wochen verlassen. Es sollte ein Erholungsaufenthalt für die lange unterversorgten Kinder sein, gefragt wurden sie nicht:
Für Mütter war es damals sehr wichtig, dass ihre Kinder sich ein paar Wochen bei Bauern satt essen konnten.
Minutiös schildert die Autorin ihre Erinnerung an den Abschied von ihrer Mutter am Bahnsteig, ihr Gepäck und die rosa Karten, die den Kindern an Spagatschnüren um den Hals gehängt wurden. Darauf waren ihre Namen und das jeweilige Reiseziel vermerkt.
Während der Zugfahrt geht Christines Karte im Wind verloren und sie hat keine Ahnung, welcher Ort darauf notiert gewesen war.
Haltestelle für Haltestelle verlässt ein Kind nach dem anderen das Abteil, mit den letzten zwanzig steigt sie schließlich auch aus dem Zug. Im Gemeindeamt kommt es zur Verteilung.
Die Bauern des kleinen Ortes suchen sich ihr Gastkind aus – doch ein rothaariger, sommersprossiger Bub bleibt übrig. Sie sind um ein Kind mehr als geplant, Christine war einem anderen Ort zugeteilt gewesen.
Wer nimmt den Überzähligen dazu? Zurückschicken kennan ma ihn net. Ana wird ihn nehma müssn!
Sehr knapp verdichtet erzählt die Autorin vom Schicksal des Buben in jenem Sommer. Er bleibt alle vier Wochen lang „der Überzählige“, mit dem weder die Dorfkinder noch die Wiener Kinder spielen wollen, weil er „so hässlich rothaarig ist“, wie die einen sagen. „Weil er immer gleich losheult“, wie die anderen behaupten.
Für Christine aber ist der eigentliche Grund der Umstand, dass er an ihrer Stelle zum „Überzähligen“ geworden ist. Sie ist ihm dankbar und macht nicht mit beim Ausspotten.
Aber geholfen habe ich ihm nie. So viel Mut kann man von einer Achtjährigen, die ihre Angst nicht los wird, als „Überzählige“ entlarvt zu werden, auch nicht verlangen.
Es ist, als stecke in diesem „Geständnis“ einer schon betagten Christine Nöstlinger komprimiert eines ihrer ganz starken Motive, das ihr Werk besonders geprägt hat:
Was sie gar nicht ertrug und stets thematisierte, war jede Form von Ungerechtigkeit, die schon Kinder viel zu oft erfahren müssen.
Sophie Schmid hat die atmosphärisch sehr stimmigen Illustrationen geschaffen. Sie fertigte die Zeichnungen in braunrot und ocker, eine Palette, die auf die lange zurückliegende Zeit verweist. Die Linienführung aber ist kräftig, sie unterstreicht für mich klar die Deutlichkeit der inneren Bilder dieser autobiographischen Erzählung. Die Illustratorin greift subtil und ohne Pathos die Bildsprache jener Zeit auf, gerade so weit, dass man sofort in die Nachkriegszeit geführt wird, dabei aber auch den speziellen Blickwinkel einer kindlichen Perspektive und Erfahrungswelt spürt. Mit ganz wenigen Strichen vermag sie gemeine Bösartigkeit in die Mimik der spottenden Kinder zu legen, große Angst in das Gesicht des „Überzähligen“ und diesen Ausdruck von Schuld und Mitgefühl in das Antlitz der abseits stehenden Christine – so unmittelbar, wie Kinder starke Empfindungen eben spüren und Emotionen in Gesichtern lesen. Von ganz besonderer Kraft ist für mich das letzte Bild am hinteren Vorsatzblatt des Buches. Es zeigt die erwachsene Christine Nöstlinger mit einem Stift in der Hand beim Schreiben, hinter ihr steht der rothaarige Bub und sieht ihr über die Schulter. Mit dieser Illustration rückt sie ganz nahe: die Anteilnahme, vielleicht auch Entschuldigung des Mädchens am Ende eines langen Lebens, während dem „der Überzählige“ möglicherweise mehr war als eine schicksalhafte Episode, jedenfalls aber nie vergessen wurde.
Kinderbuch
Nilpferd
2019
Hardcover
40
Sophie Schmid
Christine Nöstlinger erzählt ihre Erinnerung an die Kinderlandverschickung, die sie mit acht Jahren im Sommer 1945 erlebte. Ein Bilderbuch, das durch die Illustrationen von Sophie Schmid sehr eindrücklich eine kindliche Erfahrungswelt öffnet und als eine einfühlsame Abrechnung mit Ohnmachtsgefühlen und Mutlosigkeit gelesen werden kann.