Der Wal im Wasserturm

*vorgestellt von Veronika Albrecht*

 

Die Geschichte vom Wal im Wasserturm ist für mich ein Familienschatz. Sie hat meine Geschwister und mich in der Kindheit fasziniert, und jetzt wollen sie auch unsere Kinder immer wieder mal genießen. Dass es vielen so geht, beweist die Neuauflage des ursprünglich 1971 im Hamburger Broschek Verlag erschienenen Werks im Jahr 2008 bei Moritz.

 

Manche Kinder wachsen an richtig speziellen Orten auf, so wie Jan in dieser Geschichte. Er ist der neun Jahre alte Sohn eines Wasserturmwärters in Hamburg. Als er eines Tages aus einem Nebenfluss der Elbe einen ungewöhnlichen dunkelblauen Fisch angelt, stehen die Erwachsenen vor einem Rätsel, wie der denn nun einzuordnen sei. Nach einer Nacht in der Badewanne reist das Tier im Wasserkübel gemeinsam mit Jan zur Schule und weiter in der Hamburger Straßenbahn zur Forschungseinrichtung. (Der Direktor gibt dem Bub an diesem Tag kurzerhand schulfrei:)

 

Zoologisches Institut

Papendamm Nr. 5

Da bringst du den Fisch hin, Jan. Da sind viele kluge Wissenschaftler.  Also, die lösen das Rätsel ganz bestimmt!

 

 

„Die Professoren freuten sich über Jans Besuch und die neue Aufgabe.“

… und schließlich gelingt es dem ältesten aus ihren Reihen, das geduldige Wesen zu klassifizieren. Es handle sich um einen jungen Wal, den Jan tunlichst wieder in die Elbe setzen solle (in einem Buch zeigen sie ihm, wie groß so ein Meeressäuger werden kann).

 

Aber Jan kann sich von dem Tier nicht trennen, was auch seinen Vater sehr traurig macht und zu einer folgenschweren Entscheidung führt: Die beiden lassen den Wal einfach im großen Wasserbecken oben im Turm wohnen. Dem gefällt das zwar, als seine Größe aber so ungeheuerliche Ausmaße erreicht, dass es die Hamburger (die natürlich nichts von dem Geheimnis ahnen) beim Zähneputzen beeinträchtigt, weil ihre Wasserhähne im Rhythmus der Flossenschläge spucken, muss der junge Walfischer handeln. Zum Glück hat Jan viele Freunde in der Stadt, darunter einen Hubschrauberpiloten…

 

Wie Jan und der Pilot den Wal zurück ins Meer bringen wird interessanterweise mit dem Umschlagbild vorweggenommen. Dasselbe Cover zierte die 1974 erschienene Hörspiel-LP. Im Fall der Erstausgabe aus 1971 bei Broschek, sowie bei der unten rechts abgebildeten „Neuausgabe“ aus meiner Kindheit, die 1981 bei Herder Freiburg im Breisgau erschien, entschied man sich anders und wählte das Sujet des Wals im bereits viel zu engen Wasserbecken. Einmal ist also die Darstellung des Problems der Aufmacher des Buches, einmal ist es die der Lösung.

 

 

 

 

 

 

 

 

Sprachlich interessant ist im Vergleich auch die Auswahl beziehungsweise Gestaltung der jeweiligen Zusammenfassung auf den Buchrückseiten der beiden oben angeführten Ausgaben:

Während bei Moritz 2008 eine Passage aus dem Buch zitiert wird, die sehr prägnant die Exposition der Spannungskurve markiert, wählte man 1981 bei Herder eine ganz andere Form:

 

„Jan warf die Angelrute aus und wartete. Aus der Ferne hörte er den Lärm der Großstadt, aber nur ganz leise. Da! Schon hatte er einen kleinen Fisch an der Angel. Er packte ihn und ließ ihn in seinen Eimer ins Wasser fallen. Bald hatte er einen zweiten und noch einen und immer noch einen. Der zehnte war ein großer, dunkelblauer Fisch.

(Moritz Verlag, 2008)

 

 

„Eine merkwürdige Geschichte: Jan hat einen kleinen dunkelblauen Fisch geangelt. Er hat ihn sehr lieb und nimmt ihn mit nach Hause. Aber Jans Fisch ist kein gewöhnlicher Fisch: es ist ein kleiner Wal! Und dieser Wal wächst schneller, als Jan gedacht hat. Sogar das große Becken im Wasserturm wird für ihn bald zu eng. Und dann passiert eine ganze Menge in der großen Stadt… Bis Jan schließlich das einzig Richtige tut.“

(Herder, 1981)

 

 

Der Illustrator und Autor Rüdiger Stoye ist ein wirkungsreicher emeritierter Professor für Buchillustration an Hamburgs Hochschule für angewandte Wissenschaften.

Er musste bei Erscheinen des Buches Zugeständnisse machen, das Buch sei den Verlagen ursprünglich zu düster geraten, wie er am 03.12.2008 im Interview mit dem „Hamburger Abendblatt“ schildert: „Deutsche Verleger sind oft zu zaghaft, wenn es um die Frage geht, was man Kindern zumuten kann.“ Und weiter: „Meine Bilderwelt von damals ist in dieses Buch eingeflossen“, erzählt er, „der Einfluss von Pop-Art und Neorealismus ist erkennbar. Mir schwebte ein magischer Realismus vor, wie ich ihn beim Lokstedter Wasserturm empfand. Ich wollte zeigen, dass unsere Zeit keine seelenlose Moderne ist, sondern märchenhafte Geheimnisse hat, wenn man richtig hinschaut. […] Die größte Kunst im Kinderbuch ist es, die Verbindung von Unterhaltsamkeit und künstlerischer Eigenheit hinzubekommen. Meine Erfahrung ist, dass sich außergewöhnliche Illustratoren und Autoren etwas vom Kindsein bewahrt haben.“

Neben dem markanten Stil zeugt auch die strikte Trennung in Bild- und Textseiten von den vier Dekaden, die „Der Wal im Wasserturm“ bald am Buckel hat.

 

Der wunderbare Wasserturm, von dem es auch eine Fotografie im Buch gibt, steht in Hamburg-Lokstedt und erfüllte seine Funktion bis in die 1960er Jahre. Später wurde er für eine Wohnnutzung adaptiert.

Auch der Wal selbst mag reale Vorbilder haben: Kleinere Exemplare der Meeressäuger werden immer wieder mal in den großen norddeutschen Flüssen Ems, Jade, Weser und Elbe gesichtet. Manche schwimmen auf ihren Beutezügen sogar bis nach Hamburg und Bremen – aufgrund des Schiffsverkehrs leider unter Lebensgefahr. Mitunter werden sie von Menschen zurückgeleitet, unter Einsatz von Technik und Empathie.

 

Das Buch ist meiner Meinung nach zu Recht ein geliebter Klassiker – und wie alle Bibliophilen wünschte ich so vielen weiteren Werken ihre hochverdiente Langzeitpäsenz am Markt!

 

 

Der Wal im Wasserturm Book Cover Der Wal im Wasserturm
Rüdiger Stoye
Bilderbuch
Moritz Verlag
11.08.2008 (Neuauflage, erstmals erschienen 1971 Broschek Verlag, Hamburg)
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Rüdiger Stoye