Augenblick mal
*vorgestellt von Veronika Albrecht*
Augenblick mal – schon mit dem Titel dieses Sachbuches wird die Nase geradewegs darauf gestoßen, dass es sich oft lohnt innezuhalten beim Sehen. Was nehmen wir eigentlich wahr mit unserem augenscheinlich so dominanten Sinn, und warum?
Die vielfach ausgezeichnete niederländische Autorin Joke van Leeuwen zeigt ein breites Spektrum dieser Thematik. Auf den Spuren des Phänomens „sehen“ streift sie kunsthistorische Beispiele, grundlegendes über Werbung, Symbole, den Einsatz von Linien, Farben, Licht, Perspektive und Format, das Prinzip des Goldenen Schnitts, dazu auch die Effekte von Illusion und Nicht-Sichtbarkeit.
Zum Sehen gehört letztlich auch die Vision – jene des Schöpfers des Beitragsbildes oben ist die Szenerie einer Schulklasse im Jahr 2000, entstanden im 19. Jahrhundert, wie nicht zuletzt die Mode verrät. Seine Darstellung davon, wie das Wissen aus der Apparatur in die Köpfe gelangt ist in seiner Unmittelbarkeit zwar amüsant, auf den zweiten, genaueren Blick aber auch fast erschreckend nah am Kern, wie ich finde.
Die vielen packenden Beispiele sind für Kinder ab etwa zehn Jahren gut verständlich, spielerisch im Aufbau – und sie sind von vielschichtiger Relevanz:
Kann die Erde auf dem flachen Papier überhaupt so dargestellt werden wie sie wirklich ist? Ausgehend von dieser Fragestellung und den ausgewählten Abbildungen mag es sein, dass bei den Betrachtern gleich weitere Überlegungen auftauchen: Was macht es mit unserem Weltbild, wenn Karten auf den Kopf gestellt und Kontinente „verrückt“ werden?
Das Buch hilft, den Blick für die alltägliche Umgebung zu schärfen.
Es ist schließlich kein Zufall, wie Perspektive und Format in der Architektur und im öffentlichen Raum eingesetzt wird und wirkt.
Doch wer überlegt sich schon bewusst, ob der Eingang zu manch einem Gerichtsgebäude oder einer repräsentativen Herrschaftsresidenz nicht gar arg überdimensioniert gestaltet ist. So riesig mitunter, dass man sich unbewusst kleiner, vielleicht machtloser fühlt.
„Augenblick mal“ ist in dreizehn Kapitel gegliedert, die physikalische, biologische, gestalterische und kulturtechnische Grundlagen in Bezug auf die Wahrnehmung profund und kindgerecht darlegen. Dazu webt die Autorin kleine Anekdoten aus der eigenen Erfahrungswelt, der Wissenschaft und der Historie ein:
Wir erfahren, wie das spanische Mädchen María Sanz de Sautuola 1879 uralte Felsmalereien entdeckte, oder welches Geheimnis in der fast 200 Jahre alten Bildkomposition Francisco de Goyas liegt, der malerisch einen im Treibsand versinkenden Hund darstellt.
Mir gefällt das Buch auch sehr in seiner durchkomponierten Aufmachung. Gleich die erste Seite bricht mit dem Satzspiegel und unterstreicht so gestalterisch den Inhalt:
Selbst wenn wir sehr alt werden, können wir in unserem Leben nicht alles sehen, was es auf der Welt zu sehen gibt {…} Es ist viel zu viel, so viel, dass es über die Seite quillt und auf den Fußboden läuft und durch den Fußboden hindurch in die Erde. Das sehen wir zwar nicht, aber vorstellen können wir es uns, wenn wir es können.
In den unteren rechten Ecken der ungeraden Seiten erfreut die Leser ein kleines Daumenkino.
Den Abbildungen und dem Text steht Leerraum in einem angenehmen Verhältnis gegenüber, die Struktur und der gestalterische Aufbau unterstützen den Lesefluss, der Inhalt lässt sich dadurch gut sehen und wahrnehmen.
Joke van Leeuwen ist ein charmanter und schöner Einstieg in das Riesenthema der visuellen Wahrnehmung gelungen, der Kinder wie Erwachsene durchaus staunen lässt darüber „was wir sehen, wenn wir sehen und warum“.
Übersetzt hat das Buch Hanni Ehlers.
Sachbuch
Gerstenberg
2012
125
Ein unterhaltsames und informatives Sachbuch für Kinder ab zehn Jahren, die mehr darüber wissen wollen, warum „unser Sehen nicht nur davon abhängt, wie unsere Augen und unser Gehirn Bilder verarbeiten."