Hänsel und Gretel
*vorgestellt von Lisa Wagner*
Es war einmal vor langer, langer Zeit … so lautet der Anfang aller Anfänge schlechthin, was das Geschichtenerzählen betrifft. Ein ebensolcher Klassiker ist auch die Geschichte selbst, um die es in diesem Beitrag geht: das Märchen von Hänsel und Gretel.
„Wer kennt es nicht?“ möchte man antworten – und schon hält man inne, durchdrungen von der (gar nicht so leisen) Ahnung, dass das heutzutage für sehr viele Kinder eben nicht mehr gilt. Grund genug, sich der Geschichte erneut zu widmen und sie in neuem Glanz erstrahlen zu lassen: Das dachte sich vielleicht auch Sybille Schenker, als sie mit ihrer (aktuell dreiteiligen) Serie zu den Märchen der Gebrüder Grimm begann – und das ist gut so.
Denn was diese Ausgaben so auszeichnet sind neben dem Text in Originalsprache vor allem die außergewöhnlichen Illustrationen.
Die Künstlerin arbeitet mit einer Mischung aus Zeichnungen, gemusterten Papieren und dem wichtigsten Puzzleteilchen im Konzept: mit Scherenschnitten. Die Elemente werden so miteinander kombiniert, über- und untereinandergelegt und am Computer finalisiert, dass sich oft der Eindruck der Dreidimensionalität ergibt und man gleichzeitig den Charme der flachen Zeichen- und Papierarbeit wahrnimmt.
Was aber speziell in der Ausgabe von Hänsel und Gretel hervorsticht, ist die Art und Weise, wie die Bilder mit dem Text verknüpft sind. Durch den wechselnden Einsatz von dünnem Fotokarton und Transparentpapier bekommt man richtiggehend den Eindruck, in die Geschichte hineinsteigen zu können.
In den Momenten, in denen die Kinder an einem festen Ort sind, dominiert der Fotokarton in satten Farben – je nach der Stimmung der Protagonisten auch in düsterem Schwarz-Weiß. Kaum gehen sie jedoch auf ihre „nebulöse“ Reise in den Wald, schichtet sich das Transparentpapier und nimmt uns mit auf den Weg, bei dem sich uns hinter jedem Baum – also nach jedem Umblättern der durchscheinenden Seiten – eine neue Perspektive auftut.
Schemenhaft verschwindet der bereits zurückgelegte Weg – die linke Buchseite erlaubt uns noch den verschwommenen Blick zurück auf die „durchlaufenen“ Seiten – und gleichzeitig tauchen langsam die Umrisse des knallbunten Lebkuchenhäuschens auf – endlich!
Gelandet im Schlaraffenland?!
Die Art, wie das Buch konzipiert ist, lädt zum ständigen Innehalten, zum Vor- und Zurückblättern und zum genauen Beobachten ein. Und sie schreit fast danach, die Geschichte während des Blätterns frei aus dem Bauch heraus zu erzählen, ohne am Text hängen zu bleiben.
Somit wird Sybille Schenker auch dem traditionsreichen Erbe der Märchen gerecht, die jahrhundertelang von Mund zu Mund weitergegeben wurden – auch wenn die Grimm’sche Variante bekanntermaßen eine Kunstversion darstellt. Zudem ist es sehr erfrischend, dass diese Edition eine nur leicht gekürzte Version des Originaltextes verwendet, was eine gewisse Qualität im Stil mit sich bringt.
Da bleibt abschließend wohl nur noch eines zu sagen: „Rotkäppchen“ und „Der Froschkönig“ gibt es auch schon. Hurra!!
Erzählendes Bilderbuch
Michael Neugebauer Edition (Minedition)
2011
52
Sybille Schenker
Eine alte Geschichte in neuem Kleid: Scherenschnitt, Zeichnungen und Fotokarton machen den Charme des Buches aus und ergeben einen Erzählstil, der einen mitten ins Geschehen entführt.