Der Eisdrache

*Vorgestellt von Christa Öhlinger*
Riesige, verletzte Libellenflügel auf dem Vorsatzpapier lassen uns die Dramatik dieser Geschichte von Anfang an erahnen…
Gleich zu Beginn kehren die Eisdrachen mit wilden Schreien hinter den Nordwind zurück, nachdem ihre mächtigen Libellenflügel den ganzen Winter den Himmel am Rande der Welt aufwühlten , sodass die Täler in Eis und Schnee versanken…
Eigentlich sollte jetzt der Frühling kommen, doch ein Sturm macht alle Hoffnung zunichte und am Morgen „treibt das Haus durch weiße Stille“.
Vaters Jagdausflüge bleiben ohne Erfolg, die Kälte setzt ihm zu und er erkrankt. Das Mädchen mit den grünen Augen muss den Vater ersetzen – aber auch sie kommt mit leeren Händen nach Hause.
Und da sieht sie ihn:

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Ein gewaltiger Eisdrache liegt auf dem Dach . Er lässt sich nicht vertreiben, denn er ist verletzt und hat den Anschluss an seine Drachensippe verloren. Er bittet das Mädchen um Zuwendung, Nahrung  und Trost – vergebens…
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Die Situation wird mit jedem Tag schlimmer, Vorräte und Brennholz gehen zur Neige.
Der hungrige und einsame Drache weint die ganze Nacht über, und am Morgen sind alle Fenster und Türen des Hauses zugefroren – die Familie sitzt in der Falle!
Ein genialer Einfall des Mädchens und ihr Mitgefühl mit dem verletzten Tier lässt die Geschichte zuletzt doch noch zu einem guten Ende kommen.
„Danke,  sagte der Eisdrache, und Wärme durchflutete das Mädchen, taute ihre eisigen Knöchel, die kalten Knie, das gefrorene Herz.“
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Troon Harrisons Geschichte von der Kraft des Mitgefühls und der Kreativität zieht Kinder und Erwachsene gleichermaßen in ihren Bann – ein zeitloses Märchen in zeitlos schöner Sprache.
Der Eisdrache lässt uns auch an die verletzte Natur denken – ein hochbrisantes Thema.
Mitgefühl und konkretes Handeln könnten unsere Welt „retten“… jenseits aller politischen und religiösen Differenzen …

Die gedeckten Farben – grau, braun, weiß, nur wenig grün und rot –  der Illustrationen von Andrea Offermann, spiegeln die Stimmung der Kälte und Aussichtslosigkeit wider – erst am Ende der Geschichte – mit den Ideen gegen  Angst und Mutlosigkeit –  kommt ein wenig Farbe ins Spiel – und auf der allerletzen Seite explodiert der Frühling und taucht die kahlen Bäume in ein rosa Farbenmeer…
Sehr eindrucksvoll umgesetzt ist auch,  wie der verletze, hoffnungslose Eisdrache, dem förmlich das Fell – die Glitzerstacheln – am Leibe kleben und dessen Silberfarbe jeden Glanz verloren hat, wieder Mut schöpft und ins Leben zurückkehrt!
Beim Durchblättern fällt außerdem auf, dass sich die Perspektiven immer wieder ändern –
wir schauen mit dem Mädchen den/dem Eisdrachen zu – mal von hinten, mal seitlich, mal von unten;
sehen von oben in das Zimmer hinein;
befürchten, dass die Eiszapfen am Fenster schon Drachenklauen sind – mit sehr viel Weißraum rundherum;
von weit entfernt beobachten wir das Mädchen bei seinen vergeblichen Versuchen , Nahrung zu finden;
schauen mit dem Mädchen zu, wie der Papierdrache aufsteigt;
sehen von weit oben auf das Mädchen herab, und fliegen mit den Eisdrachen …
Und dann auch noch der Gegensatz zwischen Innen- und Außenszenen:
Innen: heimeliger Holzbau, zwar mit sichtbar schwindenden Vorräten, die Familie liegt aber noch einigermaßen warm unter dem fein strichlierten Fell.
Außen: Kälte pur, knorrige Bäume, Tiere im Winterschlaf unter dicker Schneedecke, meterdickes Eis und der mit vielen feinen Strichen gezeichnete Eisdrache – einerseits bedrohlich, riesig – andererseits krank und mitleiderregend….

Dieses Buch habe ich schon einige Male in der Praxis erprobt (immer mit gebannt lauschenden Kindern…) und darf es euch ans Herz legen – wider die Kälte in unserer Welt!

 

 

Der Eisdrache Book Cover Der Eisdrache
Troon Harrison
Erzählendes Bilderbuch
Nilpferd in Residenz
2014
24,5 x 16,5
55 Seiten
Andrea Offermann